INNER SPACES oder ALL EIN
Bachs Musik, ein sicherer Ort der Freiheit.
Irgendwann wurde Bachs Musik für mich ein Ort, der nichts mehr mit meinem bisherigen Leben zu tun hatte. An diesem Ort durfte ich täglich neu beginnen, hier wurde ich jeden Tag ermutigt. Hier konnte ich meine Furcht besiegen, Zweifel ausräumen, meine Stärke finden und fühlen, mir selbst begegnen. Ich konnte mich entfalten, emanzipieren, meine eigenen Ideen verfolgen, Vertrauen gewinnen und immer ganz sicher sein: Die Dinge fügen sich.
Bis ich diesen Ort entdeckt habe, war alles anders. Ich bin geborene Muslime, in Istanbul zur Welt gekommen. Und aufgewachsen in einem Dickicht von Regeln: Dies darfst Du nicht tun, jenes darfst Du nicht denken, dort gehst Du auf keinen Fall hin. Selbst in meiner musikalischen Ausbildung, in der ich früh auf Bach gestoßen bin, standen die Regeln im Vordergrund. Alles war vorgegeben.
Mit 10 Jahren kam ich das erste Mal nach Deutschland, ganz allein. Wagemutig, doch sehr jung und unerfahren. Ich wollte mehr lernen über die Musik und die Kultur, die ich so liebe.
Mit 19 Jahren verließ ich zum Studium in Deutschland endgültig meine Familie, meine Identität und meine Gewissheiten, die mir seit der Geburt ungefragt gegeben worden sind. Und plötzlich stand ich da.
EIN SAM
Um mich zu integrieren, mit der Umgebung zu verschmelzen, musste ich mich zeigen, mich offenbaren. Mit anderen Worten: mich verwundbar machen.
Jeder hat eine Geschichte, davon bin ich sehr überzeugt. Meine Geschichte hatte einen Ursprung: ALL EIN und EIN SAM sein.
Durch diese Geschichte hatte ich einen Zugang gefunden zu einer Welt, die mir bislang verborgen geblieben war. Diese Welt legte Schicht für Schicht mein Bewusstsein frei, als Frau und als Künstlerin, die ihre Stimme fand. Meine Stimme wurde mein neuer Klang, meine Sprache diente, um alles zu erzählen. Bis alles Sagbare ausgesprochen war und der Klang den Rest übernahm.
Langsam fand ich wieder Mut, trotz meinen Ängsten wagte ich viele neuen Schritte. Ich bekam Urvertrauen, je mehr ich an dem Gelingen im Leben teilnahm. Das Licht, was ich trotz der Dunkelheit betrachtete, gab mir neue Wurzeln. Ich wuchs in die Höhe, je mehr meine Wurzeln sich verfestigten.
Johann Sebastian Bach wurde zu meinem imaginären Mentor. Ich darf von ihm lernen, trotz meinen Fehlern, trotz vieler Krisen, trotz der Brüche in meinem Leben. Durch seine Musik habe ich gelernt, unverdrossen daran zu glauben, dass es noch viele Möglichkeiten des GUTEN gibt. Seine humane Seite hat mich mit der realen Welt versöhnt. Statt des starren, steingemeisselten Bild des Meisters habe ich ihn mir durch seine Musik in die Gegenwart geholt. Ich bin davon überzeugt, dass Bach nicht der 5. Evangelist auf dem Sockel ist, wie viele glauben, sondern dass sich durch seine Musik ein ganz normaler Mensch zeigt, mit Fehlern, Zweifeln und Irrwegen. Für mich wurde er ein lebendiger Bach, mitten im Leben stehend, in absoluter Gegenwärtigkeit - ohne ihn in eine Ecke zu pressen, wo er sich unantastbar in seiner Heiligkeit ausruhen darf.
Wie er plötzlich noch näher zu mir kam, habe ich beim Spielen bemerkt.
Die Ehrfurcht wich mit der immer intensiveren Auseinandersetzung.
In dem Moment, wo ich alle Hierarchien abgebaut hatte, erschuf ich mir diesen Ort. Ein Ort der Begegnungen und der Akzeptanz - egal woher ich kam, wer ich war.
Ich durfte mich trotz meiner Niederlagen, trotz meinen Fehlern und wiederkehrenden Brüchen an diesem Ort mit ICH-Stärke aufladen, weil ich wieder so sehr an das Gute glauben konnte.
Ich war an einem Ort, an dem alles gelingt, der sicher ist und frei. Für jeden zugänglich, ungeachtet von Herkunft, Religion, Hautfarbe oder Geschlecht.
Ein Ort, wo wir ALL EIN sind.